Nachtzug nach Mumbai
– Oder der Tag an dem ich beschloss, dass ich zu alt für „Abenteuer“ bin.
20:45
Mit einer Stunde Verspätung fährt der Zug in Cancona, Goa, am Bahnhof ein. Es ist unser Nachtzug nach Mumbai. Wir haben ein Ticket mit festem Sitzplatz ergattert. Und ein Ticket mit Waiting-List Platz. Also praktisch nix, denn die Waiting-List ist ein großer, wabernder Mythos der in Indien so etwas wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase ist. Es gibt sie in Wirklichkeit einfach gar nicht. Dass Stornierer hier im Zug freie Plätze für Wartelisten-Wartende frei machen? Nö.
Also müssen wir uns eine Mini-Liege-Pritsche an der Seite zu zweit teilen. Zuerst denken wir noch: „Ach, witzig. Das geht schon irgendwie! Hauptsache wir sind mal mit dem Nachtzug in der Sleeper-Class gefahren.“
Alles klar …
21.45
Die Inder sind so mega gastfreundlich! Gerade mal ne halbe Stunde sitzen und stehen wir an unserem Platz herum, drückt uns auch schon ein Mann zwei Teller, vollbepackt mit Essen, in die Hände. Schließlich essen doch jetzt gerade alle zu Abend, da kann es nicht sein, dass die beiden Weißbrote hier nix zu essen haben! Wir nehmen natürlich dankend an.
Der Mann kann ja nicht ahnen, dass wir gerade erst vor einer Stunde einen Berg Paneer Masala und Dal Tadtka gegessen haben und eigentlich papp satt sind.
Ich versuche trotzdem, so viel es geht in mich reinzuschaufeln, aus Höflichkeit und weil es einfach total lecker ist. Meinen Rest muss dann Lexi noch wegputzen, der nach den zwei Tellern kurz vorm kollabieren ist.
Während wir da sitzen und essen, laufen gefühlte hundert Verkäufer durch den Zug, allen voran der Chai-Mann mit seinem durchdringenden Chai-Gesang. Chaiiiiiiiii! Chai Chai Chai!! Chaiiiiii!
22:00
Die meisten Leute klappen nun die Pritschen runter und legen sich schlafen. Die ersten Lampen werden ausgeschaltet.
Lexi und ich versuchen uns irgendwie auf dieser unendlich kleinen Liege zu arrangieren. Auf dem Boden zischt eine kleine Maus hin und her. Besser als Kakerlaken, denk ich mir nur und bin beruhigt. So ein Leben als Zugmaus ist bestimmt nicht schlecht bei den ganzen Essensresten die so auf den Boden gekrümelt worden sind.



22:15
Das alte, aufblasbare Nackenkissen, dass ich eigentlich für’s Flugzeug mitgenommen habe, kommt jetzt endlich zum Einsatz. Ein wahrer Traum für meinen Nacken in dieser Knastzelle von „Bett“.
Ich schaue mich im Halbdunkeln um: Überall ragen Füße aus den Kojen heraus. Ein „Abteil“ weiter liegt jemand schlafend auf dem Boden. Ob die kleine Maus dem wohl an den Füßen knabbern wird?
22:30
Mein Arsch tut weh! Es ist unglaublich unbequem, keiner von uns beiden kann sich ausstrecken – in keine Richtung. Irgendwie zusammengefaltet hängt jeder in einer Ecke der Liege. Ich wünschte, wir hätten jeder so eine Pritsche, dann wäre es wirklich gemütlich.
Der Zug rattert dahin. Es ist laut. Die zig Ventilatoren unter der Decke rattern mit. Es wackelt hin und her. Hatte ich mich einst tatsächlich beschwert über den Nachtzug in Vietnam, in dem ich praktisch ein richtiges BETT mit DECKE hatte??
22:45
Fuck. Ist es wirklich erst viertel vor elf? Die Fahrt wird noch ewig dauern … und ich hab jetzt schon keinen Bock mehr. Ich werde hier nicht schlafen können, das weiß ich jetzt schon. Einfach zu unbequem. Mein Rücken ist jetzt schon ein einziger Schmerz.
Ich schaue auf meine Offline-Landkarte von Indien und schalte das GPS ein. Mal gucken wo wir schon sind … ganze 100 km haben wir schon geschafft. Na super. Werde ich jetzt noch weitere 10 Stunden hier eingepfercht sitzen? Wach? Ohne Schlaf?
22:50
Mache mir tiefgründige Gedanken darüber, warum ich dieses „Abenteuer“ unbedingt wollte. Ist das überhaupt noch ein Abenteuer oder geht das schon mehr in die Richtung Masochismus? Bin ich vielleicht zu alt für so etwas? Und buche ich mir das nächste Mal einfach einen von diesen unglaublich günstigen Inlandsflügen?
22:55
Beneide unglaublich die beiden Mädchen aus den Niederlanden, die wir gerade noch am Bahnhof in Cancona getroffen haben und die in den AC-Wagon eingestiegen sind. Mit festen Sitzplätzen.
Da hab ich die beiden noch belächelt und dachte: „AC is doch nur was für Luuuuuschen, haha! WIR fahren Sleeeeeper-Class für nur 430 Rupies die Person, weil wir ECHTE Abenteurer sind, ganz knallharte Backpacker harhar!!“
Ich wünscht, ich wär im AC-Wagon …
23:00
Ich hab Rücken. Verzweifelt versuchen wir eine halbwegs bequeme Position zu finden. Fehlanzeige! Ich will hier RAUS! Sind noch neun Stunden zu fahren. Oh GOTT …
23:15
Voller Verzweiflung fange ich an, diesen Bericht zu schreiben. Ich bin eh noch nicht müde, also krame ich Notizbuch, Stift und Taschenlampe raus, und fange an zu kritzeln.
23:45
Die Taschenlampe ist mir runter gefallen. Na super … Mit krachenden Gliedern und Gelenken entknote ich mich aus Lexis Beinen die unter und über mir gestapelt sind und steige die „Leiter“ aus rostigem Stahl herunter, um die Lampe zu holen.
Ich hab die Schnauze voll, stecke alles wieder in die Tasche und versuche erneut eine halbwegs gute Position zu finden, um einschlafen zu können.
00:01
Zu zweit liegen wir auf der 1,20 m langen und 40 cm breiten Liege ineinander verhakelt. Irgendwie schaffe ich es wegzudösen. Ein Wunder!
00:15
Der Zug nimmt wieder Fahrt auf und eine Brise aus dem Klowagen weht hinüber. Igitt …
01:53
Plötzlich ist es taghell. Was ist los?? Kurz denke ich, dass wir da sind, und ich es geschafft habe! Ich öffne die Augen und die Leuchtstoffröhre, etwa 5 cm von meinem Kopf entfernt, knallt mir in die Augen.
Die alte Oma unter uns muss jetzt wohl unbedingt um zwei Uhr Nachts anfangen ihre Betelnüsse zu kauen. Zusammen mit der anderen alten Oma von gegenüber. Da bin ich gerade mal eingeschlafen, und dann wecken mich zwei kichernde alte indische Omis im Neonlicht. Na danke.
02:30
Nach mehreren Versuchen wieder einzuschlafen noch ein Blick auf die Karte. Die Hälfte der Strecke ist geschafft. Lexi und ich verhaken uns wieder und dösen weg. Das Licht geht irgendwann wieder aus. DANKE!
04:00
Ich wache kurz auf. Mein Bein ist schmerzhaft eingeschlafen. Mit einer geschickten Zehen-Anzieh-und-Ausstreck-Technik schaffe ich es, in meiner eingequetschten Position mein Bein wieder aufzuwecken.
Ich blinzele in die Dunkelheit. Füße. Ich sehe überall nur Füße aus den Kojen ragen und undefinierbare Deckenhaufen auf den Pritschen.
05:30
Das Licht geht wieder an. Einige Leute steigen bereits aus, und Lexi kann auf eine frei gewordene Pritsche gegenüber steigen. Die Leute regen sich so langsam und Liegen werden weg geklappt. Es kann nicht mehr weit sein. Ich hoffe es jedenfalls.
Und tatsächlich: Die Karte sagt dass es nur noch 45 km sind. JA!
05:40
Und da ist der Chai-Mann wieder. Chai Chai Chaiiiiiii!!! Das akkustische Zeichen dafür, dass der Tag begonnen hat.
06:05
Hab ich schon erwähnt, dass ich seit 12 Stunden nicht mehr pinkeln war? Da ich nicht zur Quelle des ekligen Klogeruchs will, muss ich einhalten und wenig trinken. Jetzt drückt so langsam die Blase. Wie sehr ich mich schon auf unser Hotel in Mumbai freue.
Vor allem die Toilette! Ich kann es kaum erwarten.
06:33
Langsam wird es hell draußen. Leider sitze ich nicht an den Fenstern und kann nur von weitem hindurch schlinzen.
06:45
Eine tote Maus liegt im Gang. Eine andere Maus kommt angezischt und schnuppert an der Toten. Wohl doch nicht so toll eine Zugmaus zu sein.
07:21
Wir fahren durch die Vororte von Mumbai. Die Oma von unten drunter ist mittlerweile ausgestiegen und Lexi und ich können uns an die Fenster setzen. Müll. Überall sehe ich immer wieder Müllberge. In denen die Menschen leben. Ihren Alltag haben. An den Gleisen wird das Morgengeschäft verrichtet, während der Zug vorbei fährt. Das ist irgendwie krass zu sehen … einfach eine andere Welt.
Ich bin müde und fühle mich dreckig. Ich habe Durst und Hunger. Wann sind wir endlich da??
08:14
Der Zug fährt an der Endhaltestelle ein. ENDLICH! Ich freue mich so! Wir haben es geschafft und den Nachtzug nach Mumbai überlebt. Und was für ein Erlebnis … ich denke, das werde ich so schnell nicht noch mal machen … oder doch?!
Wir nehmen die Rucksäcke auf den Rücken und steigen mit müden und krachenden Gelenken aus, grinsen uns an und machen uns auf die Suche nach einem Taxi zum Hotel.


Liebe Jennifer,
wie witzig ist das bitte? Du schilderst gerade meine Zugfahrt von Vadodara nach Gandhidham beides im Staat Gujarat. 🙂 Mit der ganzen Hochzeitssippschaft meines Freundes Divakar ging es zum Ort der Hochzeitsfeier. Allerdings hatten wir alle unsere eigenen festen Plätze mit Pritsche. Aber an Schlaf war trotzdem auf dem Hinweg nicht zu denken. Der Zug war laut, es wurde kalt, es schnarchte nicht nur eine Person in meiner Nähe und ich hatte sowieso schon 24 Stunden nicht geschlafen. Bei uns gab es übrigens ein indisches und ein westliches Klo, aber bei beiden konnte man nicht von sauber sprechen. Dein Beitrag regt daher echt zum schmunzeln an, weil ich deine Erfahrung total nachempfinden kann, du schreibst einfach total witzig! 🙂 Danke für den erheiternden Beitrag!
Liebe Grüße
Anna
Hi Anna,
haha, das hört sich auch nach ner interessanten Fahrt bei Dir an! ;P Ui und dann noch Hochzeitsfeier in Indien? Cool! Das stell ich mir auch irre vor.
Liebe Grüße zurück
Jennifer
Hi Jennifer,
das sind Reiseberichte, die ich liebe. So wunderbar geschrieben und erzählt, ich hatte beim Lesen fast selber Rückenschmerzen.
Für mich/uns wäre diese Zugfahrt ein Albtraum. Ok, wir sind schon ein paar Tage älter und der Rücken schmerzt schon ohne enges Zugbett. Wir ziehen dann die bequeme Art zu fliegen vor, wobei die Nachtzüge in Thailand, wo wir mal vor der Wahl standen, offensichtlich ein Luxustempel dagegen sind.
LG Thomas
Hi Thomas,
ja man wird nicht jünger. 🙁 Und jaaa! Ich glaub verglichen mit Indien sind die in SOA wirklich sowas wie der Orient-Express.:D
Viele Grüße
Jennifer